1.2 Der inflationäre Gebrauch von Kultur


Dieses soeben beschriebene Schubladen-Denken bringt viele problematische Einstellungen, Behauptungen und Forderungen hervor. Die zur Zeit populärsten Behauptungen sind, dass jede Kultur ihre Eigenart ("Kultur") bewahren sollte, sie sollte über sich selbst bestimmen können und für sich leben (oder den Kontakt mit anderen begrenzen). Kulturen werden dann mit ethnischen Gruppen oder Nationen gleich gesetzt: Kulturelle Einheiten stimmen dieser Perspektive zufolge mit ethnischen bzw. nationalen Einheiten überein und Individuen werden als Repräsentanten einer Kultur angesehen.

"Jede Kultur für sich: Nur keine Überfremdung"

So ähnlich denken interessanterweise sowohl positiv als auch negativ gegenüber Ausländern bzw. Minderheiten eingestellte Leute. Zum Beispiel wird damit die Ablehnung von Ausländern begründet. Die Schweiz werde kulturell überfremdet, man werde eine Minderheit im eigenen Land. So ähnlich wird die derzeit laufende Initiative um eine Begrenzung des Ausländeranteils auf 18% in der Schweiz begründet. Dieses Denken ist auch Teil der Staatsideologie in vielen Ecken der Welt: Nur Mitgliedern der eigenen "Kultur" werden Rechte zugesprochen wie das Recht auf Wohnsitznahme, auf Arbeit, auf politische Mitbestimmung. Doppelte Staatsbürgerschaft wurde in Deutschland, als deren Einführung 1999 diskutiert wurde, auch aus kulturellen Gründen abgelehnt. Einen guten ethnologischen Inside-View in das Denken von Menschen bieten Chat-Kanäle im Internet. In einem von diesen ist, während ich diese Zeilen tippe, die Diskussion im Politik-Forum neu aufgeflammt. Die meisten sprachen sich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aus. Einer der für die Debatte charakteristischen Beiträge war dieser:

(www.gmx.net).


Auf einem Gegenbeitrag von mir, in dem ich das System der Staatsbürgerschaften als veraltet bezeichnete und mit dem Satz "Ich warte auf Europa" beendete, bekam ich als Antwort:

    Ich hoffe, die Nationen behalten ihre kulturellen Eigenheiten und es kommt nicht zum grossen Europaeinheitsbrei. Es scheint vor allem in Deutschland viele zu geben, die ganz versessen darauf sind, ihre nationale Identität aufzugeben. In anderen europäischen Ländern gibt es viel weniger dieses gestörte Verhältnis zur eigenen Heimat
(www.gmx.net).


Ein(e) andere(r) schrieb:

(www.gmx.net).


Diese Zitate zeigen die typische Verwendung von Kultur in der Öffentlichkeit. Hier sehen wir auch die typische Verquickung der Begriffe Kultur mit Nation und Identität bzw. Ethnizität und Nationalität. Konflikte werden gerne darauf zurück geführt, dass Ausländer eine "fremde Kultur" hätten. Die Betonung der Relevanz von Kultur zeigt sich in Wortneuschöpfungen. In Norwegen ist in den letzten Jahren der Begriff fremmedkulturell (fremdkulturell) ein Synonym für Ausländer aus Südeuropa, Afrika oder Asien geworden. Kreiert hatten ihn die Rechtspopulisten der Fremskrittspartiet (Fortschrittspartei).

Auf dem Konzept "Jede Kultur für sich" basieren die ethnopolitischen Bewegungen "indigener Völker" wie die der Indianer Nord- und Südamerikas, der Aboriginees Australiens, der Maori Neuseelands, der Inuit Grönlands und Kanadas, der Saamen in Nordeuropa sowie die separatistischen Bewegungen in Osteuropa, die uns viele neue Staaten auf der Landkarte bescherten. Der "Höhepunkt" war der Krieg auf dem Balkan, wo u.a. Serbenführer Radovan Karadzic erklärte, es sei unmöglich für die Serben, mit anderen Völkern in einem Staat zu leben. Genauso argumentierten Ethnopolitiker der Kroaten, Bosnier und Mazedonier, die jeweils alle für sich in einem blutigen Krieg einen eigenen Staat erkämpft und inzwischen "ethnisch gesäubert" haben - ein sprachliche Neuschöpfung der Nationalisten im Balkankrieg (siehe Hall 1994 zur Nationen-Bildung im Balkan).

"Jede Kultur für sich: Nur keine Verwestlichung"

Es ist erstaunlich, wie ähnlich Leute aus der politisch entgegen gesetzten Ecke argumentieren. Allerdings "Jede Kultur für sich" - damit verbindet man im Multi-Kulti-Milieu etwas anderes. Dort redet man auch von verschiedenen Kulturen, auf Festivals zur Völkerverständigung lässt man Ausländer "ihre Kultur" präsentieren, und man will, dass jede Kultur ihre so genannte Eigenart bewahrt. Menschen sieht man häufig auch dort als Repräsentanten ihrer Kultur an und nicht als eigenständige Individuen. Repräsentativ für diese Ansicht ist der Kulturjournalist Ulf Sverrevold. Einmal, während des Festivals "Verden i Tromsø" (Die Welt in Tromsø), zog er sich unzufrieden in eine Ecke und schrieb folgendes:

(in Nordlys 26.10.98).


Als ich das zum ersten Mal las, musste ich an eine ähnliche Veranstaltung an der Universität Tromsø denken. Wir ausländische Studierenden sollten uns den Norwegern an der Uni vorstellen und etwas aus unserem "Heimatland" präsentieren. Wir reagierten ablehnend. Wir wollten nicht in Schubladen gesteckt werden.

Kulturkontakt sehen "Multi-Kultis" auch gelegentlich als etwas Problematisches an. Sie drücken das nicht immer so deutlich aus wie Vertreter von Solidaritätsorganisationen oder wie manche Ethnologiestudierende. Immer wieder meinte ich heraushören zu können, dass "Kulturkontakt" für sie etwas ist, das tendenziell Schlechtes mit sich bringt. Eine Studentin zum Beispiel reagierte beinahe entsetzt, als sie in einem Seminar über die Saamen hörte, dass die Saamen sich munter mit anderen ethnischen Gruppen "vermischen". Vielleicht schwingt da eine romantische Sehnsucht mit nach dem Reinen, Authentischen, das wir noch bei den sogenannten "indigenen Völkern" oder "Naturvölkern" bewahrt hoffen. Wenn wir in unseren Hoffnungen enttäuscht werden, dann bezeichnen wir sie als "verwestlicht", und wir verlieren unser Interesse an ihnen wie dieser oben zitierte Ethnologe, der repräsentativ ist für eine einflussreiche Richtung im Fach. Als Ethnologe Eugene Roosens die Huron-Indianer studieren wollte, wurde ihm von seinen Kollegen davon abgeraten, da die Hurons keine "real Indians" mehr seien (Eriksen 1993b:131).

Ein anderes Beispiel für diese Haltung: In vielen Artikeln werden "indigene Völker" durchweg als Opfer und Verlierer beschrieben, wenn sie mit "der Modernität" konfrontiert werden - in ökonomischer und kultureller Hinsicht: Sie werden als unfähig angesehen, sich umzustellen, als unfähig, die Modernität für sich zu nutzen. Ethnologin Sabine Rogowski (1994) zum Beispiel beschreibt die Saamen schon in der Überschrift ihres Artikels als "Opfer unseres Lebensstandards" (Rogowski 1994:123) und prangert einige Seiten weiter den "Teufelskreis Modernisierung" (Rogowski 1994:136ff) an. Selbst den prosperierenden Tourismus, der für immer mehr Saamen eine wichtige Einkommensquelle darstellt, beurteilt sie negativ. Das Resultat ist für sie offensichtlich: "ihre Kultur" verschwinde und damit ihre Identität (Rogowski 1994:143).

Viele Ethnologen argumentieren ähnlich wie sie und fordern eigene Territorien für "indigene Völker", damit sie über sich selbst bestimmen dürfen und in Einklang mit ihrer Kultur leben können. Winfried Dallmann (1995), der als Spezialist für die Saamen am Norwegischen Polarinstitut in Oslo arbeitet, macht sich stark für "saamische Autonomie". Saamen und Norweger lebten nach unterschiedlichen Werten. Saamische Werte leiteten sich, so Dallmann, ab aus einem nahen Verhältnis zur Natur. Die "wachstumsorientierte Raubwirtschaft" nach der Kolonisierung saamischen Besiedlungsgebiets durch die Norweger hätte das Gleichgewicht aus den Fugen gebracht (Dallmann 1995:27). Die Ethnologen Heike Blum und Daniel Geiger (1991) begründen die Forderung nach Autonomie genauso. "Indigene Völker" würden sich in allen Bereichen erheblich von den Nationalstaats-Gesellschaften, die sie umgeben, unterscheiden. Zudem hätte Land "spirituelle und identitätsstiftende Aspekte" für "indigene Völker" (Blum und Geiger 1991:18-19).

Auch beim Thema Ausländer stosst man auf ein ähnliches Denken. Vor allem, wenn es um "Secundos" geht, also 2. Generations-Ausländer oder "Mischlinge". Immer wieder bekommt man zu lesen und zu hören, wie schlimm es sein soll, Secundo oder Mischling zu sein. Man sei nämlich hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen: der Kultur des Elternhauses und der Kultur der "Gast-Gesellschaft". Hier wird erneut ein Entweder-Oder-Denken deutlich. Die Botschaft dahinter: Am sichersten sei es, in "einer Kultur" verankert zu sein, wobei Kultur stets nationale Kultur bedeutet. Daher stammt auch die Forderung im Multi-Kulti-Milieu, Ausländer sollten ihre eigene Kultur bewahren dürfen. Das beuge Konflikten, die durch "Entwurzelung" entstünden, vor. Diese Argumentation erinnert an Diskussionen im Deutschland der 1930er- Jahre, wo behauptet wurde, Nachkommen von Eltern verschiedener Abstammung seien weniger widerstandsfähig und weniger kräftig als ihre Eltern. Boas hat dies engagiert widerlegt (Boas 1932:7ff).

Die Frage nach der Bedeutung des Wortes "Kultur" wird in der Regel nicht diskutiert. Kultur wird mit "traditioneller Kultur" gleichgesetzt und das ist in der Regel die Kultur der Eltern. Ein Beispiel ist eine Veranstaltung innerhalb der Reihe "Zwischen den Kulturen - türkisches Leben in Lörrach". Sie hiess "Türkische Vorspeisen - junge Türkinnen kochen". Ich ging hin und bediente mich erfreut an in Blätterteig gefülltem Gemüse und Fleisch und an anderen leckeren Snacks. Ich sprach die etwa 20jährigen Türkinnen hinter dem Essenstand an und fragte sie, ob sie das oft kochen. Die Antwort war ein kollektives Kopfschütteln. "Wir kochen das zum ersten Mal", sagten sie. "Am liebsten kochen wir italienisch oder chinesisch." Ein türkischer Konsul hatte bei einer Diskussion über türkische Schulen in Deutschland gesagt: "Die Jugendlichen sollen ihre Identität kennen lernen." Das scheint auch bei dieser Veranstaltung der Fall zu sein. Nicht wenige Jugendliche empfinden solche Denkweisen als Bevormundung und Einschränkung ihrer Freiheit, einige leiden unter ernsthaften persönlichen Konflikten. Sie wollen schliesslich ihr eigenes Ding machen.

Während meiner Feldforschung in der Hip-Hop-Szene Basels (Khazaleh 2000, siehe Bericht) bin ich auf mehrere "Secundos" gestossen. Einer hatte Texte und Gedichte über die "Zerrissenheit" geschrieben. Jetzt, mit fortgeschrittenem Alter, denkt er, dass das nur dummes Gerede war. Er findet seinen gemischten Hintergrund gut und nutzt ihn, indem er mit arabischen Buchstaben experimentiert und arabische Bilder in seine baseldeutschen Raptexte einbaut (Khazaleh 2000:58- 59). Viele "Secundos" definieren sich gar nicht via Nationalität. Die Frage, ob er sich als Schweizer oder Türke fühle, hat ein anderer "Secundo" gar nicht gemocht. Sie setze ihm Grenzen, sagte er: "Ich bin etwas Undefinierbares" (Khazaleh 2000:26). Im Hip-Hop-Milieu ist es inzwischen "in", von gemischter Herkunft zu sein, und wer nur Schweizer ist, hat gelegentlich sogar Komplexe.

Nur auf ein Beispiel will ich noch kurz eingehen. Es gibt eine Reihe von puristischen Musikkritikern, die es gar nicht mögen, wenn man verschiedene Stile aus "verschiedenen Kulturen" mischt. Sie versuchen mit grossem Eifer, jeden Musiker einer Kultur zuzuordnen. Der Veranstalter eines World-Music-Festivals sagte einmal einen Musiker aus Reunion namens Danyel Waro an. Waro ist Sohn eines weissen Kolonialbeamten. Der Veranstalter sagte, Waro spiele Musik, die "nicht Teil seiner Kultur" sei. Eine abenteuerliche Aussage. Sie deutet folgendes an: Kultur sei genetisch bedingt, die Welten von Weissen und Schwarzen würden sich gegenseitig ausschliessen. Waro könne niemals, obwohl er auf Reunion aufwuchs und sein ganzes Leben dort gelebt hat, Teil der Kultur, die auf der Insel gepflegt wird, werden. Jeder, der seine Musik gehört hat, weiss, wie unrecht der Veranstalter hatte.

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