Systemdynamik - oder die fehlende 5. Disziplin in Davos

Die Proteste gegen das World Economic Forum in Davos haben die Welt aufgeschreckt. Die Ereignisse zeigen deutlich, dass herkömmliche Arten von Problemlösung unzureichend sind. An systemischem Denken hat es gemangelt. Das werde ich im folgenden darlegen.

Die Zürcher Polizeisprecherin zeigte sich in den Medien überrascht über die Krawalle in ihrer Stadt: "Wir sind überrollt worden." Sie war nicht die einzige mit einem Denken, das mehr in linearen statt in dynamischen oder systemischen Bahnen läuft. Die ganzen Sicherheitsmassnahmen basierten auf einem Denken, das nur von den Elementen A und B ausgeht und nicht an das C denkt. Beispiel: Ein Demonstrationsverbot (A) verhindert Ausschreitungen (B): "In Davos werden Demonstrationen erwartet. Sie stellen ein Problem für das WEF dar. Um Ausschreitungen wie in Seattle zu vermeiden, verbieten wir die Demonstration." Dass das Demonstrationsverbot Folgen mit sich bringt ausser den gewünschten und kalkulierten (C), was wiederum zu D führt. Daran haben die Verantwortlichen nicht gerechnet. Ansonsten hätte sich die Polizeichefin nicht überrollt gefühlt.

Die Ereignisse in Davos sind ein wunderschönes Beispiel, um das von Peter Senge in seinem Klassiker "Die fünfte Disziplin"" beschriebene Systemdenken zusammen zu fassen. Das Buch ist ursprünglich für Manager geschrieben, und viele Beispiele stammen aus der Geschäftswelt. Systemdenken ist eigentlich, das schreibt er auch, nichts anderes als eine Methode, um komplexe Probleme zu lösen. Neu ist sie auch nicht. Nur denkt fast niemand systemisch. Und noch nie hat wohl jemand ein deutlicheres Plädoyer dafür geschrieben. Das Buch ist innerhalb weniger Jahre zum Kultbuch avanciert.

Systemdenken ist von seinem Ansatz her mehr oder weniger synonym mit ganzheitlichem oder vernetzten Denken. Es ist interdisziplinär und widersetzt sich einer Zerlegung eines Problems in Einzelteile. Methodisch macht die Systemdynamik Anleihen bei der ethnologischen Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung. Ihnen liegt die Ueberzeugung zu Grunde, dass bei jeder Art von Problemlösung die mentalen Modelle der Beteiligten zentral sind. Ihre Methodik ist "akteurorientiert". Kennt man die mentalen Modelle, ist (C) eher vorher zu sehen - und vermeidbar. Mentale Modelle sind tief verwurzelte Annahmen, welche die Wahrnehmung der Welt - und damit unsere Handlungen - steuern. Zum Systemdenken gehört das Denken mit loops - Feedbackprozessen. Jeder Akteur ist Teil eines Feedbackprozesses. Jede Handlung hat eine Folge, welche wieder andere Folgen auslöst. Diese Folgen können verstärkend, abschwächend oder ausgleichend sein. Mehrere Loops können nebeneinander laufen und sich gegenseitig beeinflussen. Wird man sich ihnen bewusst, kann man erkennen, wo die Knackpunkte (begrenzende Faktoren) sind und ggf eingreifen. Kennt man wichtige Faktoren und ihre Auswirkungen, kann man das Resultat von Aenderungen simulieren.

Bsp: Eine übliche Methode, um Staus zu beseitigen ist der Bau von neuen Strassen. Kurzfristig scheinen die neuen Strassen das Problem zu lösen. Doch die Existenz neuer Strassen steigert die Attraktivität des Autofahrens. Der Autoverkehr steigt, so kommt es wieder zu Staus. Ein systemischer Ansatz würde ganz am Beginn des Problemes ansetzen: am Willen nach Fortbewegung (der hier u.a. als begrenzender Faktor auftritt), diesen thematisieren und bei Bedarf in Frage stellen.

1972 kommt der Bericht des Club of Rome mit dem Titel "Limits To Growth" heraus. Er baute auf den Arbeiten des "Vaters der Systemdynamik", Jay Forrester, auf und kam zum Schluss:

"Solange grundsätzliche Strategien des Wachstums (anstelle von Strategien eines dynamischen Gleichgewichts) verfolgt werden, bringen auch neue Rohstoffquellen, Produktrecycling, bessere Düngermittel oder andere technologische Verbesserungen lediglich ein Hinausschieben der Katastrofe, ohne diese verhindern zu können."

Peter Senge skizziert im zweiten Kapitel so genannte Lernhemmnisse:

(1) "Ich bin meine Position": Damit meint er das Beamtendenken, dass sich jeder nur für seinen Bereich verantwortlich fühlt und nicht über den Tellerrand hinaus schaut, das Ganze im Blick hat.
(2) "Der Feind da draussen": man selbst ist nie schuld
(3) "Angriff ist die beste Verteidigung": das ist die Folge von Punkt 2: vor seiner eigenen Haustür kehrt man nicht
(4) Fixierung auf Ereignisse statt auf Prozesse
(5) "Das Gleichnis vom gekochten Frosch", der nur auf plötzliche Veränderungen reagiert und deshalb in einem Wasserglas verkocht, das nur langsam erwähnt wird (Folge von 4.)
(6) Die Illusion, dass wir aus Erfahrung lernen: Oft erfahren wir nicht, wie sich unsere Entscheidungen auswirken, weil es sich oft um langwierige Prozesse handelt.
(7) Der Mythos vom Managerteam: Oft verhindert das Bedürfnis, vor andern gut da zu stehen, eine Lösung.

Darauf aufbauend nennt er die Gesetze der 5. Disziplin, der Systemdynamik. Viele lassen sich auf Davos anwenden.

1.Die Lösungen von gestern sind die Probleme von heute
2. Je mehr man sich anstrengt, desto schlimmer wird es
3. Das Verhalten verbessert sich, bevor es sich verschlechtert
4. Der bequemste Ausweg erweist sich oft als Drehtür
5. Die Therapie kann schlimmer sein als die Krankheit
6. Schneller ist langsamer
7. Ursachen und Wirkungen liegen räumlich und zeitlich nicht nahe beeinander
8. Massnahmen mit der stärksten Hebelwirkung sind häufig zugleich die unauffälligsten.
9. Sie können den Kuchen essen und behalten - nur nicht gleichzeitig.
10. Niemand ist schuld.

In Davos hatte das lineare Denken wie wir wissen ebenso unerwünschte Nebenwirkungen - direkte und indirekte. Das Demonstrationsverbot führte zu einer Verlagerung und nicht zu einer Lösung des Problems. Man kann spekulieren, ob es es nicht gar verschlimmert hat. Statt in Davos kam es an den Absperrungen und in Landquart zu Auseinandersetzungen von Polizei mit Demonstranten. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Gummigeschosse ein. An der italienischen Grenze wurden Leute gefilzt und abgewiesen. Das betraf sogar Journalisten, die rechtmässig Zugang bekommen sollten. Demonstranten machten Sitzstreiks vor dem Zoll. In Davos selbst wurde die Bewegungsfreiheit selbst für Einheimische extrem eingeschränkt. Schliesslich zogen die Demonstranten, die erfolgreich von der Polizei von Davos fern gehalten worden waren, nach Zürich, wo die Situation eskalierte.

Das Verhalten der Polizei war kontraproduktiv und hatte auch indirekte Auswirkungen. Das WEF hat sicher nicht für sich geworben. Das beklagten selbst WEF-Mitglieder. Es hat sogar positive Prozesse gefährdet. Denn diesmal waren mehr NGOs vertreten gewesen wie nie zuvor. Bei der WTO sind NGOs schon seit mehreren Jahren ständige Mitarbeiter, die sich durch ihre Kompetenz Respekt verschafft haben. Diesmal drohten NGOs, das Forum zu verlassen. Die jüngste Reaktion des WEF auf die Proteste, die nächste Sitzung nach Qatar zu verlegen, wo politische Demonstrationen per Gesetz verboten sind, zeugt davon, dass man wirklich nicht aus der Erfahrung von Davos gelernt hat.

Eine systemische Perspektive setzt auf "Teamlernen", auf Dialog, das was WTO und NGOs schon lange machen, weil sie wissen, dass dies für beide Seiten eine Win-Win-Strategie ist. Plötzlich entdeckt man, dass man mehr gemein hat als gedacht und dass man von Zusammenarbeit nur profitieren kann. So vermeidet man die indirekten Folgen der Davos-Sicherheitsaktion (s.u). Senge schreibt auch von der Kraft von "gemeinsamen Visionen", welche "Menschen aus sich selbst heraus wachsen" lässt.

In der Stadtplanung praktiziert man diese Strategie schon lange. Die "Werkstadt Basel" ist ein Beispiel, wo Quartierbewohner von Anfang an in den Prozess eingebunden worden waren. "Visionen entwickeln" stand ganz oben an. Man sollte sie formulieren, auch wenn man sie für unrealisierbar hielt. Schlussendlich stellte sich heraus, dass doch mehr möglich war als man gedacht hatte und man nicht allein mit seinen Visionen war, man doch Gemeinsames mit angenommenen Gegner finden konnte.