Dies ist die neue Druckversion des Textes auf www.lorenzk.com/ethno/wirtschaft1.html (25.2.2004)



Wirtschaftsethnologie (1): Einleitung

Tauschwirtschaft und Kapitalismus - ein Gegensatz?

Wie würden wir einem Fremden unser Wirtschaftssystem erklären? Den meisten würde ein Wort auf der Zunge liegen: Kapitalismus. Vielleicht als Gegenstück zum Sozialismus oder zur sowjetischen Planwirtschaft. Ein anderes Schlagwort wäre soziale Marktwirtschaft. In der Wirtschaftsethnologie ist es üblich, den Kapitalismus unserer Gesellschaft mit der Tauschwirtschaft nicht-industrialisierter Gesellschaften gegenüber zu stellen. Doch je länger ich mich mit Wirtschaftsethnologie, mit moka, kula, potlach und anderen Tausch- und Geschenökonomien beschäftigt hab, umso mehr wurde mir klar, wie wir teils nach ähnlichen Prinzipien wirtschaften und dass die Bedeutung des Kapitalismus in unserer Gesellschaft übertrieben wird.

Ausserdem ist unser Wirtschaftssystem nicht statisch, es unterliegt Veränderungen. Und es existieren mehrere Systeme neben einander. Immer wird an neuen Modellen gearbeitet, vor ein paar Jahren sprach man von einem Oeko-Kapitalismus, jetzt regiert der Neoliberalismus, die Grenzen sind jedoch fliessend. Phasen, in denen Unternehmen soziale Verantwortung übernehmen wechseln mit solchen ohne Verantwortung. Immer noch existiert eine kontrollierende Gewalt: die Politik. Gewählte Volksvertreter legen die Regeln für Handel und Wirtschaft fest, im Zuge wirtschaftlicher Globalisierung nimmt die Macht der Politiker jedoch zugunsten von Wirtschaftsvertretern immer mehr ab. Das bekümmert immer mehr Leute, die sich in diversen Bewegungen engagieren.

Interessanterweise wurden in den letzten Jahren immer mehr Tauschringe gegründet, da Dienstleistungen wie eine Veloreperatur kaum mehr bezahlbar sind. Vielen ist der soziale Aspekt zentral: Tauschringe lassen eine Community von Leuten entstehen, die sich gegenseitig Dienste erweisen und helfen, ohne dass Geld ins Spiel kommt. Die Kultur der Gegenseitigkeit hat mit dem Internet Auftrieb erhalten. Programmierer stellen gratis Programme zum Download bereit, in Foren kann man sich zu allen möglichen Themen beraten und helfen lassen. Viele Leute erstellen Netzseiten und hoffen, dass sie den Leserinnen und Lesern nützen.

Wirtschaftsethnologie ist daher ein sehr aktuelles Thema, da es über ein grosses Repetoir an Studien über alternative Wirtschaftsmodelle verfügt. Gerne werden ethnologische Erkenntnisse in politischen Kontexten benutzt, wie z.B. von Kapitalismus- und Globalisierungskritikern. Es ist vor allem ein Konzept, das die Kritiker interessiert - das der "Embeddedness" von Karl Polanyi.

Embeddedness meint, dass die Wirtschaft ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ist, ("embedded"), unseren Normen und Werten, also unserer Kultur untergeordnet. Dies ist nicht nur bei nicht-kapitalistischen Gesellschaften der Fall, sondern auch bei uns. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist ein Beispiel hierfür: Die Wirtschaft wird mittels Gesetzen reguliert, um Wohlstand für alle zu ermöglichen.

Polanyi meint, dass Wirtschaft auf die Dauer nur zum Besten aller funktionieren kann, wenn sie in der Kultur der Gesellschaft "embedded" ist - wie dies z.B. in einem Sozialstaat der Fall ist.

Doch heute, im Zeitalter wirtschaftlicher Globalisierung kann man sich fragen, ob sich die Verhältnisse umkehren, dass sich unsere Kultur der Wirtschaft unterordnen muss.

Denn die meisten politischen Entscheidungen werden einseitig mit der Ökonomie begründet, wie viel Geld sich sparen liesse, Profit rausschlagen etc.

Zum Beispiel sagte man bislang, eine gebildete Bevölkerung sei Grundlage für das Funktionieren einer Demokratie. Deswegen gab man gern grosse Summen für Bibliotheken aus, hat also die Wirtschaft diesen Anforderungen angepasst. Jetzt werden Bibliotheksfilialen geschlossen und Zeitungsabonnements gekündigt. Auf die Frage eines Journalisten, ob hier gegen den Bildungsauftrag verstossen werde, antwortete die Bibliothekssprecherin: Das dreht sich um Oekonomie.

Ich werde nun drei berühmte Beispiele von Tauschwirtschaft schildern: Kula, moka und potlatch. Danach werde ich eine vielzitierte Forschung über die Veränderungen in der Wirtschaft der Tiv durch die Marktwirtschaft skizzieren, die Bedeutung von Geld diskutieren (Ist Geld ein neutrales Zahl- und Tauschmittel oder verändert es unsere Art zu denken und handeln?) und Tauschwirtschaft und Kapitalismus vergleichen.




Wirtschaftsethnologie (2): Wie komme ich an das, was ich zum Leben brauche?

Verschiedene Formen des Tausches

Wirtschaftsethnologie studiert Wirtschaft als Teil der Gesellschaft und nicht als ein isoliertes Phänomen wie die Wirtschaftswissenschaft. Beim Studium verschiedener Tauschökonomien erkennen wir schnell, dass das, was wir Wirtschaft nennen, auch mit Religion oder gesellschaftlicher Organisation zu tun hat. Ethnologen schreiben, dass viele Gesellschaften in ihrer Sprache kein eigenes Wort für Wirtschaft kennen.

Das Grundproblem von Wirtschaft ist: Wie bekomme ich das, was ich zum Leben brauche? Techniken zur Nahrungsbeschaffung variieren je nach klimatischen Bedingungen, auf sie werde ich nicht näher eingehen. Schlagwörter wie Nomadismus, Wanderfeldbau, Gartenbau und Landwirtschaft sollen genügen. Hier geht es um die Verteilung von Gütern.

Nirgendswo auf der Welt kann ein Mensch allein das produzieren, was er zum Leben braucht. Ueberall ist man auf andere Menschen angewiesen, auch wenn es nur die eigene Familie ist. Wie diese Güter verteilt werden, wie man als einzelner sie erwerben kann - das ist eine spannende und für die persönliche Oekonomie der Menschen oft entscheidende Frage, zu der auf der Welt verschiedene Lösungen entwickelt worden sind - gerechtere und ungerechtere: Nicht wenige sorgen dafür, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit bereichern kann. Will man in unserer Gesellschaft ein Gut erwerben, muss man zuerst gearbeitet und Geld erworben haben. Ohne Geld steht man schlecht da und muss am Rand der Gesellschaft leben.

Diese Art von Güterverteilung ist typisch für industrialisierte kapitalistische Gesellschaften. In den meisten anderen Gesellschaften funktionierte Verteilung durch Tausch. Polanyi hat verschiedene Systeme in der Welt verglichen und fand drei Hauptmuster, die Marshall Sahlins weiter entwickelt hat. Ich werde sie kurz vorstellen.

Auf unsere Zeit übertragen, kann man sagen, dass die Debatten rund um die globalisierte Wirtschaft sich um (1)und (2) kontra (3) drehen - um soziale kontra freie Marktwirtschaft.

Ueber die Wirtschaftsordnung wird stets verhandelt. Ausserdem existieren innerhalb verschiedene Spären gleichzeitig, in denen unterschiedliche Prinzipen gelten. Formen (2) und (3) dominieren die formelle Oekonomie, konkurrieren miteinander, während (1) unsere informelle Oekonomie (Freudeskreis, Familie) prägt. Die Grenzen sich jedoch unscharf.

Im folgenden werde ich (1) näher erläutern. Ich beginne mit Marshall Sahlins Weiterentwicklung von Polanyis Reziprozität. Er kann drei verschiedene Arten ausmachen.

Im allgemeinen, so Sahlins, ist man am solidarischsten gegenüber seinem nächsten Umgangskreis. In vielen Gesellschaften wird es als heroisch angesehen, Fremde zu töten, während es ein ernstes Verbrechen ist, jemanden aus der eigenen Bevölkerung zu töten. Diese Haltung, so ein Kommentar des norwegischen Ethnologen Thomas Hylland Eriksen, war besonders in den USA deutlich gegenüber der irakischen Bevölkerung während des Golfkrieges.




Wirtschaftethnologie (3): eine berühmte Studie von Malinowski

Kula auf Trobriand

Ein berühmtes Beispiel für eine Tauschwirtschaft stammt von den Trobriand-Inseln. Das ganze Leben sei ein ewiges "give and take", wunderte sich Malinowski (1922). Wenn man zum Beispiel gleich nach der Ernte durch ein Trobriand-Dorf läuft, wird man grosse Berge an Yams vor den Eingängen säuberlich aufgestapelt sehen. Das ist nicht der selber geerntete Yams, sondern der, den sie von Verwandten (und eventuell von politischen Klienten) bekommen haben. Die Grösse des Hügels gibt Auskunft über die gesellschaftliche Bedeutung des Bewohners.

Ein grosser Teil der eigenen Yams-Ernte muss ein Mann gleich weiter geben - an seine Schwester und seine Mutter. Der Grossteil davon fällt ihrem Ehemann zu. Einige mächtige Männer brauchen gar nicht im Garten zu arbeiten, da sie genug Frauen, Kinder und Verwandte haben, von denen sie Yams bekommen. Manche lassen sogar Yams absichtlich in aller Oeffentlichkeit verrotten, um für neue Ernte Platz zu machen und zeigen, wie gut es ihnen geht.

Auf Trobriand gibt es eine Vielzahl an Tauschformen. Manche kennen wir ebenso, der Unterschied wird sein, dass diese Tauschformen auf Trobriand institutionalisiert sind und einen eigenen Namen haben. Der eben genannte Yams heisst Urigubu. Die Verteilung von Essen nach einer Beerdigung nennt man Sagali. Wasi ist der Tausch von Fisch gegen Gemüse zwischen Küsten- und Binnenlandbewohnern, Gimwali ist der unpersönliche Kauf und Verkauf.

Am bekanntesten ist der Kulahandel. Es handelt sich um einen Tausch von Prestigegegenständen: Armreifen (mwali) und Halsketten (soulava) aus Muscheln, die nur zu besonderen Anlässen getragen werden.

Der Handel erstreckt sich über ein grosses Gebiet von Inseln und hat komplizierte Regeln.

So zirkulieren die Gegenstände immer in entgegen gesetzter Richtung: die Halsbänder mit der Uhr, die Armbänder gegen die Uhr und werden jeweils gegeneinander getauscht. Die Gegenstände sollten genau den selben Wert haben.

Am wertvollsten sind die schönsten, die am weitesten gereist sind, mit denen sich die aufregendsten Geschichten verbinden, wer sie schon in der Hand gehabt hatte. Diese zu ergattern ist das Ziel von allen. Aus dem temporären Besitz lässt sich viel Ansehen gewinnen. Wenn ich so ein Ding hätte, würden sich viele Männer mit Geschenken um meine Gunst bemühen, mit ihnen zu tauschen. Geschichten würden um mich kursieren als einen erfolgreichen Kula-Händler. Kein Wunder, dass der Tausch oft in einem zeremoniellen Rahmen statt findet.

Wozu das ganze? Worum geht es eigentlich? Darüber ist immer wieder spekuliert worden. Sowohl Malinowski und besonders Annette Weiner, die in den 70er- und 80er-Jahren forschte, zeigen auf, dass das Kula ein Mittel ist, um Prestige und Berühmtheit zu erlangen. Besitzen heisst Ansehen zu geniessen - und damit auch Macht. Entscheidend auf Trobriand und vielen anderen Gesellschaften: Besitzen heisst, man muss auch geben können: "Hauptzeichen der Macht ist Reichtum, und Reichtum zeigt sich durch Grosszügigkeit" (Malinowski).

So gehört es zum guten Ton, beim Geben und Nehmen Gleichgültigkeit zu zeigen: "Man hat es ja."

Kula ist noch mehr. Es besiegelt Partnerschaften zwischen einzelnen Männern und zwischen ganzen Dörfern und Inseln, die weit voneinander entfernt liegen.

So handelt man immer mit den selben Leuten, oft das Leben lang. Je mächtiger ein Mann ist, um so mehr Partner hat er. Ein gewöhnlicher Mann wird einen oder zwei Häuptlinge aus seinem oder einem benachbarten Gebiet haben, mit denen er Kula treibt. Zwischen ihnen besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Der Mann wäre verpflichtet, ihnen zu dienen. Umgekehrt muss der Häuptling sich ihm gegenüber besonders freigiebig erweisen und ihm schützen.

Der Kula-Handel zwischen einzelnen Inseln ist mit besonders viel Festlichkeiten verbunden. Es werden extra Kanus gebaut und verziert. Partner in Uebersee, auf fremden Inseln, zu haben ist besonders wertvoll. "Der überseeische Gastgeber", so Malinowski, "ist Gastgeber, Beschützer und Bundesgenosse in einem Land voller Gefahr und Ungewissheit."

Kula bindet also ein grosses Gebiet zum einem Handelsnetz zusammen und fördert den Handel, der nebenbei immer stattfindet. Solche Zusammenschlüsse kennen auch wir, die EU ist mit ihren Bemühungen durch verschiedene Massnahmen, Europa zu vereinen, ein Beispiel.

Die Bedeutung des Kula hat sich historisch geändert. Die Kolonisierung durch Europäer erhöhte den Bestand an Waren und Wohlstand, mehr Männer und Frauen nahmen teil. Noch heute existiert der Tausch, wenn auch in teils anderen Formen. Motorboote ersetzen Kanus. Heute benutzen junge Trobriander mit wichtigen Positionen in Business und Politik das Kula, um ihre Karieere zu pushen.




Wirtschaftsethnologie (4): kapitalistische Indianer

Potlatch

Eine extreme Form von Gabenaustausch ist das Potlatch der Kwakiutl-Indianer im NW Nordamerikas und ihrer Nachbargruppen. Er ist kaum mit dem Kula zu vergleichen, da es viel mehr auf Konkurrenz ausgeht statt auf Partnerschaft. Man muss den anderen übertreffen, Gaben werden vor aller Augen gar zerstört, um seinen Reichtum zu demonstrieren.

Diese Form von "Tausch" macht nur in hierarchischen Gesellschaften Sinn. Bei den Kwakiutl diente das Potlatch dazu, seine persönliche gesellschaftliche Position zu verteidigen und zu verbessern, unter anderem durch den Erwerb von Namen und Titeln. Er war gleichzeitig eine Form von Investition und Sozialversicherung und kurbelte die Produktion an.

Die Kwakiutl waren viel hierarchischer organisiert als sonst unter Jäger- und Fischergesellschaften üblich. Sie hatten aristokratische Abstammungslinien und Häuptlinge, früher hielten sie Sklaven. Die Grenzen zu den weniger Priveligierten waren scharf. Sie unterschieden sich von anderen Indianern Nordamerikas: Ihre Ökonomie war auf das Meer fixiert, spezialisiert auf Fischfang, Muscheln und Meeressäuger. Das Meer bot mehr als sie brauchten und bildete die Grundlage für dauerhafte Siedlungen am selben Ort. Die Idee von Privatbesitz war verbreitet, auch auf Land und Naturressourcen bezogen – dies war alles im Besitz des Adels.

Jeden Winter luden die Häuptlinge sich zu gediegenen Festen ein. Essen und Trinken wurden in übermässigen Mengen serviert, sie zerstörten gar Werte wie Kupferplatten. Sie warfen grosse Mengen an gesalzenem Fisch fort und zündeten Decken und Zelte an. Boas schreibt, dass sie früher gar Sklaven ins Meer warfen. Auf diese Weise demonstrierten sie einander ihren Reichtum: es machte ihnen nichts aus, Ressourcen zu verschwenden, so gut ging es ihnen.

Thomas Hylland Eriksen beschreibt Potlatch als angeberischen, zur Schau stellenden Verbrauch – etwas das wir in abgeschwächter Form auch bei uns kennen, indem wir uns z.B. bei Essenseinladungen gegenseitig übertrumpfen.

Potlatch ist jedoch nicht nur ein Aspekt von Verbrauch. Potlatch ist ein Beispiel eines Systems mit sehr ungleichem Zugang zu Reichtum. Abhängige müssen für den Ueberfluss der Priveligierten arbeiten. Jeder Häuptling muss Leute haben, die für ihn diese Werte produzieren.

Potlatch baut eigentlich auf kapitalistischen Prinzipen des Wettbewerbs auf, wie dies George Gilder beschreibt. Basis seiner Argumentation sind Werke von Herskovits, Harris und Codere.

Er schreibt, Kapitalismus beginne mit Geben. Die Kapitalisten traditioneller Gesellschaften seien Häuptlinge, die einander übertrumpften, indem sie füreinander Feste veranstalteten. Aehnlich habe Handel begonnen. Familien boten einander etwas an. Diese Gaben wurden mit der Hoffnung auf Gegengabe gegeben. Beim Potlatch kann man nur auf eine grössere Gegengabe hoffen, wenn man die Bedürfnisse und Wünsche des anderen verstanden hat oder geweckt hat. Diese Gaben, schreibt er, seien Investitionen. Wie diese Gaben würden Investitionen im Kapitalismus ohne vorbestimmte Gegenleistung getätigt (erwartet werden sie dagegen schon!).

Franz Boas interpretierte den Potlatch ähnlich. Er sah ihn nicht nur als Investition, sondern auch als Sozialversicherung. Der Veranstalter eines Potlatch, schreibt er, will die Früchte seiner Arbeit so anlegen, dass er für sich und seine Kinder den grösst möglichen Nutzen daraus zieht:
"Diejenigen, die bei einem solchen Fest Geschenke erhalten, nehmen sie als Darlehen, welches sie bei laufenden Unternehmungen verwenden; doch nach einigen Jahren müssen sie es dem Geber oder seinen Erben mit Zins zurück geben. So wird der Potlatch schliesslich als Mittel angesehen, das Wohl der Kinder zu sichern, falls diese in jugendlichem Alter Waisen werden sollten."

Die Aehnlichkeiten mit dem Kapitalismus verwundern nicht, schaut man auf den geschichtlichen Hintergrund. Potlatch wurde erst richtig gross durch die vielen Waren, welche mit der Kolonialisierung durch Europäer in ihrem Gebiet neu hinzu kamen. Potlatch war vor der Kolonialisierung keine distinkte Institution und war vor allem nicht mit dem System des sozialen Rangs verknüpft. Das passierte erst mit dem gestiegenen Wohlstand und dem Herausbilden einer wirtschaftlichen Elite. Mit der Wirtschaftskrise in den 1920er-Jahren in den USA brach das System zusammen, es war ohnehin verboten worden, da die Behörden Rituale missverstanden und als Kannibalismus deuteten. Potlatch lebte jedoch in verschiedenen Formen weiter - bis heute.

Potlatch ist eine Form von Redistribution - Punkt 2 in der Lister im Kapitel 2. Von dem Güteraustausch profitieren auch gewöhnliche Leute. Wie beim Kula gehört es zum guten Ton, Besitz nicht anzuhäufen, sondern weiter zu geben.

Abschliessend ein paar Stichworte zum grössten Potlatch im Jahr 1921: Es dauerte mehrere Tage, zwischen 300 und 400 Leute nahmen teil. Am ersten Tag werden Reden geschwungen, wo der Rivale auf ritualisierte Form beschämt und verhöhnt wird ("Ich bin der grosse Häuptling, der die Leute beschämt"). An den folgenden Tagen teilt er aus: Teppiche, Kanus, Schmuck, Gaslichter, Violinen, Nähmaschinen, Möbel, Geld, 1000 Säcke Mehl, einen Stapel Sachen für seine eigenen Leute als "return for favors": Kleider und Schmuck für Frauen, Sweaters und Hemden für junge Leute.

AKTUALISIERUNG 27.1.07: Kommentar von Alexa (via e-mail)

"Nach dem neuesten Stand der Forschung ist der Potlatch nicht auf der Grundlage der Verschwendung von Gütern aufgebaut. Auch in vorkolonialer Zeit stand der Potlatch in engem Zusammenhang mit Rang und Prestige. Die Hauptfunktion, nicht wie Boas es fälschlicherweise interpretierte, bestand darin die Stellung innerhalb der Gesellschaft zu bestätigen nicht sie zu erlangen. Es war ein komplexes Statussystem, das hinter der Institution des Potlatches stand. Siehe die neueren Forschungen von Philip Drucker, z.b. "to make my name good".





Wirtschaftsethnologie (5): Schweine- und Muscheltausch in Papua New Guinea

Das Moka bei den Melpa


Weniger bekannt als das Kula und Potlatch ist das Moka der Melpa im Inneren von Papua New Guinea. Die Melpa leben in einer egalitären Gesellschaft, wo man mittels Erfolg im Moka den Status des Big Man erhalten kann. Big Man halten gesellschaftliche Führungspositionen inne. Diese Position ist jedoch nicht permanent und ist nicht institutionell in einer Hierarchie verankert. Jeder kann Big Man werden. Damit ist ihr Austauschsystem das egalitärste der bisher besprochenen.

Die Melpa leben im Inneren Hochland von Papua New Guinea. Yams, Taro, Süsskartoffeln bauen sie an und jagen Vögel. Ausserdem halten sie eine Menge Schweine. Sie sind grösstenteils Selbstversorger, ihren Ueberschuss bieten sie auf dem Markt an.

Grundprinzip des Moka ist: Man muss mehr geben als man bekommen hat. Damit festigt man sein Ansehen. Im Unterschied zum Potlatch geben Rivalen einander nicht Moka. Sonst würden stabile Hierarchien entstehen wie beim Potlatch. Man gewinnt eher Prestige als einen Rang. Wer Moka macht hat eine Kette von Partnern. Alle sind aufeinander angewiesen. Vor einem grösseren Moka muss er sie mobilisieren und sich auf sie verlassen können.

Nicht alle Mokas dienen persönlichen politischen Ambitionen. Mokas unter Freunden und Bekannten werden veranstaltet, wenn man Unterstützung nötig hat. Man bittet einem Partner um ein Moka, wenn man bestimmte Güter braucht - für sich persönlich, für Investitionen z.B. oder für grössere Mokas. Es gibt Moka-Partnerschaften zwischen ganzen Dörfern - wie beim Kula.

Marshall Sahlins listet folgende Funktionen des Moka auf:

Was wird getauscht? Es sind hauptsächliche Schweine und Muscheln. Das ist bei allen drei Arten von Moka gleich.

Es gibt Mokas als Wiedergutmachung nach Streitigkeiten und Kriegen zwischen Gruppen. Die Gaben sind sehr hoch, sie müssen den Zorn der Hinterbliebenen der Opfer sänftigen. Die Initiative geht dabei von der Gruppe des Opfers aus mit einem einleitenden Geschenk von Muscheln und Schweinen.

Dann gibt es noch ein Muschel-und ein Schweine-Moka. Man rechnet in Einheiten. Die Anfangsgabe besteht beim Muschelmoka aus mehreren Einheiten von zwei Muscheln und einem Schwein. Die Gegengabe sind Einheiten aus acht oder zehn Muscheln. Beim Schweinemoka fängt man mit einer Gabe von kleinen Schweinen an und gibt dann grosse lebende Schweine und gekochtes Schweinefleisch zurück. Dazu gibt es Reihe von Extra-Gaben: lebende Cassowaries (Vögel), lange Bambusröhren mit Oel, Pedanusfrüchte, Ochsen zum Schlachten, zeremonielle Steinäxte,in neuerer Zeit Fahrräder, Autos, Bier...

In der Melpa-Gesellschaft wird man schon früh in diese Tauschwirtschaft hinein sozialisiert. Man lässt Jungs wie Mädels von Kindesbeinen an Tausch-Partnerschaften aufbauen. Jungs tauschen Essen, Pfeil und Bogen, Murmeln, Geld. Mädels tauschen Perlen, Netztaschen und Schmuck.

Im Mokasystem sind nur Männer aktiv, diese treten nach der Heirat ein. Männer sind auf die Arbeit der Frauen angewiesen, weil diese sich um die Schweinezucht kümmern.

Schweine spielen eine besondere Rolle bei den Melpa. Sie werden hauptsächlich für das Moka gezüchtet und nur zu besonderen Anlässen verspiesen. Ethnologen haben sich in der Vergangenheit immer wieder mit der Rolle der Schweine beschäftigt. Man begann z.B. von einem "Pig complex" zu reden - wie vom "cattle complex" bei den Nuer im Sudan. Davon mehr im nächsten Kapitel.




Wirtschaftsethnologie (6): Herskovits und Evans-Pritchard

Pig and Cattle Complex

Was manche Ethnologen früher verwundert hatte: Viele Gesellschaften schuften, um einen Austausch von Gütern am Leben zu halten, die sie gar nicht unbedingt brauchten. Wie deutlich geworden sein sollte, waren mit dem Tausch oft politische Zwecke verbunden. Oft genug war der Tausch wirtschaftlich wichtig, weil er für gute nachbarschaftliche Beziehungen sorgte. Er bildete oft den Rahmen für gewöhnlichen Handel. Besonders gross war die Verwunderung gegenüber der Bedeutung von Schweinen bei den Melpa in Papua Neu Guinea - und von Vieh bei den Nuern im Sudan.

Frühere Ethnologen meinten, diese Gesellschaften würden nicht rationell wirtschaften, da sie die Tiere nicht essen. Die grosse Viehherde verursache Schäden in der Landschaft (Ueberweidung).

Herskovits führte den Begriff des "Cattle Complexes" ein. Damit wollte er ausdrücken, dass Rinder mehr für soziale und rituelle Zwecke gehalten werden als zur Subsistenz/Ernährung.

Aehnliches stellte man bei den Melpa fest. Schweine sind bei den Melpa Haustiere und spielen in Zeremonien eine Rolle und sind die wichtigsten Gaben beim Moka. Anscheinend lassen Frauen die Schweine an ihrer Brust saugen. Das Halten der Tiere sei Verschwendung, warf man ihnen vor.

Die Nuer sind Hirten und wuerden nur widerwillig Landwirtschaft, treiben, schrieb Evans-Pritchard anno 1940. Die Rinder sind ihr ein und alles. Die Braut wird mit Rindern bezahlt, der Zeitpunkt der Heirat wird dem Leben der Tiere angepasst, Männer werden mit Namen genannt, die auf die Farbe oder Form ihres Lieblingsochsen hinspielt, das Vieh spielt eine wichtige Rolle im Ritualleben. Ein Mann stellt Kontakt zu Geistern über die Rinder her.

Und immer reden Nuer mit und über ihre Tiere - etwas, was Evans-Pritchards schnell zu viel wurde. Nuer waschen Hand und Gesicht im Urin der Tiere, trinken ihre Milch und ihr Blut und haben ein umfangreiches Vokabular, um sie zu beschreiben. Eine grosse Herde mit fetten Rindern ist das Stolz eines jeden Hirten.

Doch wie so oft in der Geschichte der Ethnologie waren die Forscher unfähig, ihnen fremde Verhältnisse zu verstehen. Ich kann nicht auf die Diskussionen eingehen, in denen Ethnologen auch bei anderen Gesellschaften die Kompetenz der Einheimischen in der Wirtschaftsführung anzweifelten (u.a. Buschmänner, Inuit).

Wie spätere Forschung zeigte, wurden sowohl Schweine und Rinder öfter gegessen als angenommen. Das lag an der Häufigkeit ritueller und zeremonieller Anlässe, wo man diese Tiere verspeisen darf. Rinder und Schweine, die einen natürlichen Tod gestorben sind, darf man auch essen. Ausserdem erfüllen grosse Herden eine wichtige wirtschaftliche Funktion. Wie Kinderreichtum stellen sie eine Sicherheit dar gegen Verlust durch Epedemien oder Hunger.

Diese angeblich verschwenderische Wirtschaftsform ist also eine Strategie zu grösst möglicher Sicherung des Nahrungsmittelkonsums. Rinder sind für die Verwendung zum Fleischkonsum auch gar nicht so effizient wie Ziegen. Fleischverzehr ist eine einmalige "Nutzung" des Tieres, während die Milchproduktion - das Hauptziel der Hirten - nachhaltiger ist.

Die Rinder sind daher ein wichtiges Kapital. Kapital meint angehäufte Güter, die man gegen andere Waren oder Werte eintauschen kann. Mit ihnen kann man mehr Gewinn erwirtschaften als mit Landwirtschaft, da der zu bewirtschaftende Boden limitiert ist und nicht viele technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Nomaden jedoch können leicht Ueberschuss in Vieh investieren. Andererseits beansprucht Viehhaltung, damit sie sich lohnt, grössere Landflächen als die Landwirtschaft - etwas, das heute für viele Hirtengesellschaften ein Problem darstellt.

Der Begriff des Cattle- oder Pig-Complexes wird von heutigen Ethnologen wegen seiner negativen Konnotation nur mit Einschränkungen benutzt. Sinnvoller mag sein, den Begriff "money complex" auf unsere eigene Gesellschaft anzuwenden. Man kann nicht unbedingt sagen, wir wuerden schuften, nur um Waren zu produzieren, die wir wirklich brauchen.




Wirtschaftsethnologie (7): Kapitalismus und Tiv-Ökonomie - ein Resumee

Traditionelle und kapitalistische Wirtschaft – ein Gegensatz?

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Grenzlinien zwischen traditioneller und kapitalistischer Wirtschaft nicht eindeutig zu ziehen sind. Mir scheint, der bestimmende Faktor über die Art des Wirtschaftssystem die Grösse der Bevölkerung, ihr Aktionsradius und die Machtverhältnisse sind. Diese Faktoren sind wieder abhängig von Naturverhältnissen und Geschichte.

Ein Grossteil der "traditionellen Gesellschaften" sind wenig spezialisierte Gesellschaften ohne viel Arbeitsteilung. Dies unterscheidet sie merklich von uns. Und die Oekonomie hat einen engeren Aktionsradius. Es sind deshalb Face-to-Face-Oekonomien, wo viel Wert auf "das Soziale" gelegt wird. Man hat oder hatte immer ein persönliches Verhältnis zu seinem "Handelspartner". Preise standen selten fest und wurden ausgehandelt. Sie unterschieden sich auch je nachdem wie gut man den Käufer kannte und ob man mit ihm verwandt war. Profitmaximierung war in der Regel nicht das Ziel – höchstens Fremden gegenüber.

Ihre Supermärkte sind die Märkte (Name!) und deren Organisation war der sozialen Ordnung untergeordnet. Oft waren Markttage mit Festen und besonderen Ereignissen, auch religiöser Natur, verbunden – auf jeden Fall war ein Markt immer ein groses Ereignis, vielleicht so ähnlich wie bei uns früher der Jahrmarkt. Als ich vor zehn Jahren einen ländlichen Markt in Togo besuchte, fiel mir auf, dass eigentlich niemand hin ging, um einzukaufen, sondern eher um Leute zu treffen und zu schwätzen.

Viele Gesellschaften verfügten zwar über Formen von Geld, z.B. Kaurimuscheln in Westafrika oder Kakaobohnen bei den Azteken. Diese hatten jedoch nicht die Funktion von unserem Geld. Es war kein "general purpose money", sondern "special purpose money", d.h. in seiner Einsetzbarkeit sehr limitiert.

Die meisten Gesellschaften haben Regeln darüber, was Gegenstand von Handel mit und ohne Geld sein kann. Kauf und Verkauf von Arbeitskraft oder Land ist in den meisten traditionellen Gesellschaften undenkbar. Auch bei uns kann man nicht alles mit Geld kaufen, wenn auch viel mehr als in "traditionellen Gesellschaften". Ein viel zitiertes Beispiel stammt Paul Bohannan, der den Uebergang der Tiv-Wirtschaft in Nigeria von einer Tausch- zu einer Geldökonomie beschreibt.


Einführung von Geld bei den Tiv in Nigeria

Die Tiv sind traditionell Landwirte, sie züchteten lange Zeit Hirse, Früchte und Gemüse hauptsächlich für ihren eigenen Konsum. Ueberschuss wurde redistributiert (verteilt) oder auf dem Markt verkauft. Austausch funktionierte auf dreierlei Weise, je nachdem in welcher Sphäre die Ware (oder der Dienst) eingeteilt ist. Innerhalb jeder Sphäre ist Handel moralisch unbedenklich. Etwas anderes ist der Fall beim Handel zwischen den einzelnen Sphären. Da es kein universelles Mittel zum Messen des Wertes bei den Tiv gibt, ist es unklar, wie "bezahlt" werden soll. Es wird auch als dumm und unmoralisch angesehen, Prestigegegenstände wie Messingstangen gegen noch so viele Getreidesäcke einzutauschen und ist nur in Notsituationen akzeptiert.

So funktionierte die Tiv-Oekonomie bis zum zweiten Weltkrieg. Die Kolonisierung des Inneren Nigerias führte zu Veränderungen. Frieden wurde hergestellt, dies ermöglichte, in Gegenden Handel zu treiben, wo es früher gefährlich war. Es gab mehr Waren, Handel wurde wichtiger. Man produzierte nicht mehr Nahrungsmittel für den eigenen Verbrauch, sondern für den Markt. Viele Leute spezialisierten sich auf Sesamsamen, die sie gegen Geld verkauften, wofür sie Essen und andere Waren kauften.

Die Einführung des Geldes machte die Aufrechterhaltung des Sphärensystems unmöglich. Geld drängt sich überall hinein. Im Gegensatz zu Messingstangen konnte es aufgeteilt werden. Man konnte durch Arbeit Geld bekommen.

Die Tiv-Wirtschaft veränderte sich völlig. Man produzierte nicht mehr Nahrungsmittel für den eigenen Verbrauch, sondern für den Markt. Beim Markttreiben stand plötzlich das Geldverdienen im Vordergrund. Nicht nur Medizin, Rituale und Kühe, sogar den Brautpreis begann man mit Geld zu bezahlen. Für viele bedeutete das eine Abwertung von Frauen, weil Frauen nun zur Ware wurden genauso wie Yams oder Hühner.

Die Prinzipien des Marktes über Angebot und Nachfrage erstatteten Regeln über Richtig und Falsch. Die Wirtschaft der Tiv verlor ihre moralischen Aspekte.


Die Bedeutung von Geld

Die Einführung von Geld bei den Tiv hatte dramtische Folgen für ihre Gesellschaft. Ähnliches hören wir von Indianern in Amerika und den Inuit in der Arktis.

Georg Henriksen hat den Übergang zum Geld bei Inuit in Kanada studiert. Er schreibt, dass die Tauschrituale und Regeln der Inuit in Kanada keinen Sinn mehr machten, als sie sesshaft wurden und Teil der Geldwirtschaft wurden. Er hat beobachtet, dass die Menschen dort hauptsächlich individuelle Karrieren verfolgen und so wenig wie möglich abgeben. Die Einführung von Geld führte da sogar zu einer Schichtung der Gesellschaft. Sie basierte darauf, wieviel der einzelne an Besitz angehäuft hat - und nicht wie früher wie viel er weggegeben hatte.

Was erzählen diese Beispiele vom Wesen des Geldes?

Geld hat auch Eigenschaften, die Profitdenken fördern. Denn es ist aufteilbar und lässt sich unbegrenzt lagern. Man kann mit dem Einkaufen/Investieren warten, auf eine günstige Gelegenheit spekulieren. Man kann das Geld für sich arbeiten lassen (Zinsen / Devisenspekulation).

Geld hatte schon immer etwas Anrüchiges an sich. Ob Aristoteles, Jesus oder der Profet Mohammed warnten vor den schädlichen Folgen durch den Umgang mit Geld, von der Sucht nach immer mehr Geld und vom Horten des Geldes. Das Allerschlimmste ist das Zinsnehmen. Geld dafür zu verlangen, wenn man anderen Geld leiht, gilt als unmoralisch und wurde deshalb von allen grossen Religionsgründern untersagt. Im Buch Moses steht: „Du sollst dem anderen Menschen dein Geld nicht auf Zins leihen.“Das Verbot galt bis ins späte Mittelalter.

Ohne Geld lässt sich nicht leben, also ist ein Grossteil unserer Energie darauf ausgerichtet, dies zu erwerben. Zeit ist Geld, sagt man. Und deshalb werden Tätigkeiten danach bewertet ob sie Geld einbrigen oder nicht. Ob diese Tätigkeit der Gesellschaft dient oder nicht, spielt keine grosse Rolle. Belohnt werden Aktivitäten, die einen Profit abwerfen.

Handel zeichnet sich ursprünglich dadurch aus, dass man gibt, was man übrig hat und erwirbt, was man braucht. Der Austausch ohne Geld oder Ware gegen Ware klappt so lange gut wie die Gesellschaft wenig spezialisiert ist. Er ist bei uns im informellen Rahmen üblich. Helfe ich Kollegen beim Umzug verlange ich kein Geld, freue mich aber ueber eine Essenseinladung oder ein paar Bier. In einer Forschung über ein Dorf in Nordnorwegen wird die entsetzte Reaktion beschrieben, als eine Zugezogene ihre Nachbarin fragt, ob sie von ihr Multebeeren abkaufen könnte. Nein, so was tut man nun wirklich nicht! Sie bekommt gerne ein Glas, aber gegen Geld, nein!!

Aber wie soll ich einen teuren Flug in die USA bezahlen, gebe es nicht Geld? Geld erleichtert den Handel in komplexen Gesellschaften. Wichtig: Es macht Waren vergleichbar. Wie Ethnologe Thomas Hylland Eriksen ironisch anmerkt, könne man durch die Existenz von Geld sagen, eine Novellensammlung von Kafka sei soviel Wert wie drei Schachteln Zigaretten. Ich bezahle mit Arbeit, die zuvor geleistet habe. Gearbeitet habe ich nicht für die Fluglinie oder das Reisebüro, sondern für eine Zeitung, die nichts mit der Fluglinie zu tun hat. Die Geldscheine sind so viel Wert wie meine Arbeit. Unser Wirtschaftssystem basiert auf dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft.


Aufblühen der Tausch- und Schenkkultur

Die Bedeutung von Geld und des Marktprinzipes in unserer Geld nicht grösser machen als sie ist. Wie in der Einleitung erwähnt, nehmen Formen des nicht-monetären Austausches wieder zu - durch die vielen Tauschringe und besonders durch das Internet. Viele Dienste sind ohne Geld erhältlich – gegen den Tausch von Werbung: Man kann gratis Zeitungen aus aller Welt lesen, Webseiten erstellen, Emails verschicken. Imponierend viele Leute lassen uns gratis ihre selbst erstellten Programme herunterladen. Wenn wir Informationen suchen, sind wir froh über die vielen Internetseiten von Privatpersonen, Instituten und Organisationen, die wir gratis nutzen dürfen. Oder man denke an die vielen Foren, in denen man sich zu allen möglichen Themen von fremden Leuten beraten und helfen lassen kann - so viel Hilfsbereitschaft und Gegenseitigkeit ist immer wieder erstaunlich.

Im Internet ist wie bei den Inuit in der Arktis oder den Trobriandern im Pazifik nicht die Währung Geld im Spiel, sondern die Währung Ansehen und Respekt. Und es funktioniert auf Gegenleistung: Jeder trägt seinen Teil zur Weiterentwicklung des Internets bei.

Es ist auffallend, wie oft der Begriff “Gift Economy” (Geschenkökonomie) in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Internet ins Spiel gebracht wurde, einen Begriff, der ja aus der Ethnologie stammt. Und in mehreren Artikeln vergleichen Hacker und Programmierer ihre Dienste mit der Bedeutung von Potlatches.

Abgesehen davon gibt es immer genug Leute und Betriebe, denen Gewinnmaximierung nicht das oberste Ziel ist. Banken gibt es, für die die Idee, "Geld als sinnvolles Medium zu nutzen, um soziale Prozesse in Gang zu setzen" wichtiger ist als Profit. Man denke an die Passion von Künstlern, die selbst Armut in Kauf nehmen, um ihrer Berufung zu folgen, oder an Wissenschaftler, die jahrelang forschen nur wegen der Schönheit des Entdeckens selbst und nicht wegen des Geldes. Und genug Leute engagieren sich ehrenamtlich für eine gute Sache.


Lorenz Khazaleh, Januar 2001, November 2002, Ende Februar 2004.

Der Text stammt von www.lorenzk.com/ethno/wirtschaft1.html