Die Tyrannei des Augenblicks

Wie wärs mit etwas längeren Mittagspausen? Oder mit jährlich zwei dreistündigen Pausen mitten in der Arbeitszeit? Mit Zeit für ein Picknick, Gesprächen mit Kollegen? Einem Email-freien Monat, mobiltelefonfreie Restaurante und Busse? Weniger, dafür längeren Artikeln in der Zeitung? Offenen Plätzen und schönen Häusern, die zum Anhalten einladen? Trödeln als Tugend anzusehen, solange man nicht andere schädigt? “Langsamkeit muss beschützt werden”, meint Thomas Hylland Eriksen, einer der bekanntesten und originellsten Ethnologen Norwegens in seinem neuen Buch “Øyeblikkets Tyranni” – die Tyrannei des Augenblicks.

Buchcover

Das Buch handelt um die Nebenwirkungen von Internet, e-mail, Mobiltelefonie und anderer neuer Informationstechnologie: Es geht Fragen nach wie: Wie kann es sein, dass wir trotz neuer Informationstechnologie weniger Zeit haben als früher? Warum führt mehr Information zu weniger Wissen? Und warum finden wir immer noch, das dass das Starten des Programmes Word zu lange dauert?

Dem Autor geht es nicht wie viele andere Kultur- und Geisteswissenschaftler darum, Technologie zu verdammen. Schon 1996 – lange bevor sich Mann und Frau auf der Strasse einen Internetnetanschluss besorgte, war Thomas Hylland Eriksen mit einer eigenen Homepage im Netz vertreten. Technik muss vernünftig genutzt werden. Und das kann man nur, wenn man die Nebenwirkungen von Technik kennt. Deshalb das Buch. Neben einem historischen Teil über Veränderungen in unserer Auffassung von Zeit enthält das Buch auch ein ganzes Kapitel, in dem Eriksen Vorschläge zum Schutz von “langsamer Zeit” unterbreitet – im Arbeits- wie im Privatleben.

Erstmals in der Geschichte besteht keine Knappheit an Information, sondern ein Überfluss. “Mehr von allem” ist die Tendenz – bei der Anzahl an Zeitschriften, neuen Büchern, Doktorarbeiten, Internetseiten und privater wie geschäftlicher Kommunikation (Telefonleitungen, Flug- und Autoreisen). “In der Informationsgesellschaft herrscht Knappheit an Freiheit von Information”, schreibt Eriksen. “Wenn ich in einem Buchladen bin, betrachte ich es als Sieg, mindestens eine halbe Stunde darin zu verbringen und mit leeren Händen heraus zu gehen.” Das, so meint der 39jährige, beweise, dass seine Filter noch intakt seien.

Freie Zeit, “die Zwischenräume” in Eriksens Vokabular, werden mit “schneller Zeit” zugestopft. Wir sind es gewohnt mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Wir schauen beim Essen TV. Während wir auf den Fahrstuhl warten, lesen wir Zeitung. Für Informationsanbieter ist unsere Zeit die wichtigste Ressource. “Der Kampf um die freien Sekunden ist im Gange.” Immer mehr wird in immer kleinere Lücken reingestopft. Zeitungsartikel werden kürzer, besonders im Internet blüht Häppchenjournalismus, auf WAP-Telefonen ist nur Platz für eine Schlagzeile. Selbst Aufführungen klassischer Theaterstücke sollen weniger lange dauern als früher.

Schnelle Zeit gewinnt gegen langsame Zeit. Schnelligkeit ist ein abhängig machender, narkotischer Stoff, so der Ethnologe. Schnelligkeit führt zu Forderungen nach noch mehr Schnelligkeit. Wenn wir uns an einen Standard von Schnelligkeit gewohnt haben, gibt es keinen Weg zurück mehr. Wir sind erst zufrieden, wenn Internetseiten in der selben Sekunde erscheinen, wie wir sie aufrufen. Emails werden so schnell geschrieben, dass Stil und Syntax darunter leiden. Früher, als wir noch Papierbriefe schrieben, warteten wir mehrere Wochen auf eine Antwort, heute werden wir bereits 30 Sekunden nachdem wir auf die “Senden”-Taste gedrückt haben ungeduldig.

Die gesamte Kulturgeschichte liesse ich unter dem Aspekt von Schnelligkeit und Anonymisierung von Beziehungen schreiben, meint Thomas Hylland Eriksen. Jede Erfindung der Vergangenheit trug ihren Teil zur heutigen Situation bei.

Die grossen Einschnitte in der Technologiegeschichte folgten immer schneller aufeinander. Der erste grosse Einschnitt war die Schrift. Sie erlaubte es, Gedanken von Menschen festzuhalten, man brauchte nicht mehr mit ihnen reden. Wissen konnte sich komulativ entwickeln: Man musste sich die Texte nicht mehr merken. Die Einführung von Schrift machte den Anfang des Übergangs von einer konkreten zu einer abstrakten Gemeinschaft aus, so Eriksen.

Der nächste Einschnitt ist die Uhr. Sie wurde ursprünglich eingeführt, um die christlichen Gebetszeiten zu steuern (der Muezzin übernahm dieselbe Aufgabe im Islam). Die Uhr externalisiert die Zeit: Zeit existiert nun ausserhalb unserer Erfahrung, wird messbar. 1889 klagte der Filosof und Nobelpreistraeger Henri Bergson über diese “leere” messbare Zeit, die uns von aussen steuere. Wir sollten uns lieber von unserem eigenen Rhythmus und dem Rhythmus unserer Aufgaben leiten lassen.

Geld ist eine Informationstechnologie, die genauso wirkt wie die Schrift und die Uhr. Geld abstrahiert Handlungen. Früher basierten Kauf und Verkauf auf Vertrauen, man kannte einander. Das ist heute nicht mehr notwendig.

Anhand weiterer Beispiele zeigt Eriksen auf, dass die Gesellschaft immer abstrakter wurde. Zentral ist hier die Industrielle Revolution und der Fortschrittsglauben. Besonders letzterer führte uns in die augenblickszentrierte Zeit: “Die Uhr, die Buchdruckerkunst, die Wissenschaft und ihre Technologie, die industrielle Produktionsweise und der Kapitalismus machen das kulturelle Paket aus, das Fortschrittsgläubigkeit schafft.”

Was ist bedenklich an dieser Entwicklung von langsamer zu schneller Zeit?

  • Schnelligkeit führt zu Vereinfachungen und zum Verlust von Präzision: Nur ein Tag dauerte es, bis alle EU-Staaten Sanktionen gegen Österreich eingeführt haben, nachdem die rechtsextreme FPÖ in die Regierung gekommen war. Ständige Aktualisierung ist das A und O bei Nachrichtenseiten im Internet, worunter unter anderem die Quellenkritik leidet. In der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Lesers, der im Falle der norwegischen Nettavisen (ihr Ableger in Deutschland ist die Netzeitung) durchschnittlich nur 45 Sekunden auf der Seite verweilt, werden die Artikel immer kürzer. Die Botschaft wird deutlicher, fuer “langsame” Hintergrundanalysen bleibt kein Platz.
  • Schnelligkeit führt zur Fliessbandproduktion: Manche Waren wie Plastikeimer werden nicht unbedingt schlechter, wenn man sie schnell und in Massen produziert. Anders sieht es bei Wein oder Fleisch (Hühner, die länger leben dürfen, schmecken besser) aus. Oder auch Rasen wie eine Anedokte ausdrückt: “Was müssen wir machen, um auch so schöne Rasen zu haben wie Ihr”, fragte ein Amerikaner einen Engländer. “Beginne vor 400 Jahren”, lautete die Antwort.
  • Mehr Schnelligkeit führt nicht immer zu mehr Effektivität: PCs werden zwar immer schneller. Dafür werden die Programme immer grösser, komplexer und absturzanfälliger. Im Endeffekt braucht man heute mehr Zeit für dieselbe Aufgabe. Elektronische Zeitplaner sind so gestaltet, dass die meisten Nutzer sehr viel Zeit brauchen, um herauszufinden, wie sie ihre Zeit planen sollen. Trotz (oder wegen?) Informationstechnologie verbringen immer mehr Leute immer mehr Zeit in Sitzungen, am Telefon, mit Emails schreiben, Formulare ausfüllen, Protokolle schreiben.

Immer schneller, immer effektiver und immer mehr von allem – diese Entwicklung hat bedenkliche Auswirkungen auf unser Leben zu Hause und auf der Arbeit.

  • Das Arbeitsleben wird flexibler, aber unsicherer: Soziologe Richard Sennett schreibt von erfolgreichen Menschen, die darum kämpfen, ein eigenes Leben zu führen (“struggle to have a life”). Sie reisen viel, haben das betriebseigene Mobiltelefon ständig angeschaltet, stehen unter Druck und sind nicht selten “ausgebrannt” (inzwischen eine gängige Vokabel im Norwegischen), bevor sie 35 Jahre alt sind.
  • Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt: Viele Firmen stellen ihren Mitarbeitern Laptops zur Verfügung, damit sie zu Hause weiter arbeiteten können. Immer mehr Leute haben nie richtig frei. Angestellte in vielen Branchen – Journalisten, Webentwickler etc erleben, dass die schnelle Zeit der Arbeit die langsame Zeit des Privatlebens auffrisst.
  • Familienleben ist langsam und deswegen unzeitgemäss: Das Familienleben muss sich dem Arbeitsleben unterordnen. Viele Arbeitgeber stellen ledige Mitarbeiter ein, die darauf eingestellt sind, rund um die Uhr zu arbeiten.
  • Der Verbrauch stapelt sich in die Höhe, Zusammenhänge verschwinden: Wir konsumieren immer mehr in immer kürzerer Zeit. Wir ziehen “Instantaktivitäten” vor, gehen ins Fitnessstudio statt den langen Weg in die Natur auf uns zu nehmen. Es bleibt immer weniger Zeit für diverse Aktivitäten. Das führt nicht nur zu Stress, sondern auch zu Fundamentalismus (= Ignoranz der Komplexität des Lebens) oder Handlungslähmung. Das Resultat: Unser Leben besteht aus “Augenblicken, die in rasanter Geschwindigkeit still stehen”.

Anfangs habe ich einige seiner Lösungsvorschläge vorgestellt. Er legt Wert darauf, dass persönliche Massnahmen (wie “Jeden Donnerstag und Montag lese ich eine Zeitschrift statt einer Zeitung” oder “nach der Arbeitszeit bin ich bis halb neun Uhr mit meiner Famile zusammen und für die Aussenwelt nicht erreichbar”) nur ein Anfang sind. Die Gesellschaft als Ganze muss sich zu mehr Langsamkeit bekennen:

  • Langsamkeit wird in die Presseethik aufgenommen: Es wäre ein Vergehen gegen die Richtlinien, würden Nachrichten aus der Genforschung genauso vermittelt wie der neueste Klatsch aus der Popmusikwelt.
  • Langsamkeit und Zusammenhang werden Kampfsachen der Gewerkschaft: Was nutzt eine fünfte Ferienwoche, wenn man bereits vor der Mittagspause am ersten Arbeitstag ferienreif ist?
  • Die Behörden beschliessen zwei halbe freie Tage pro Jahr mitten am Arbeitstag, zum Beispiel von 11-14 Uhr. Thomas Hylland Eriksen ist Mitglied der 070605-Bewegung . Diese hatte am 7. Juni 2000 “eine langsame Mittagspause” in Oslo organisiert. Die Betriebe sollten von 12-13 schliessen, die Mitarbeiter die Stunde in Ruhe geniessen. Läden boten “slow food” an, Menschen setzten sich mit einem Picknickkorb auf einen belebten Platz, andere gingen spazieren. “So kann man mal zwei oder sogar drei Gedanken hintereinander denken. Manche werden entdecken, dass die Welt weiter geht, auch wenn man ein Buch liest oder mit Kollegen redet statt gebannt vor dem Telefon und dem Computer sitzt.”

Ich finde, er gibt eine reelle Beschreibung, die im Buch freilich nuancierter ist als in meiner Zusammenfassung. Nicht alles ist neu, doch der Sachverhalt ist selten so gut analysiert und mit einem Berg an Fakten belegt worden (“Er ist so klug, so klug”, gab eine Bekannte während ihrer Lektüre des Buches von sich). Schnelligkeit als narkotischer Stoff, Zwischenräume, die zugestopft werden, Stapelung von Fakten, Augenblicke, die in rasender Geschwindigkeit stillstehen – das sind Bilder, die der Leser nicht so schnell vergisst – und anregen!

Thomas Hylland Eriksen (2001): Øyeblikkets tyranni. Rask og langsom tid i informasjonsalderen

Mehr im Netz:

Thomas Hylland Eriksens Homepage (englisch)

NEU:
Das Buch gibt es seit Herbst 2002 auf englisch. Thomas Hylland Eriksen stellt es selber vor. zur Besprechung und inzwischen gibt es das Buch auch auf Deutsch: Mehr Info bei amazon.de und socialnet.de

Links zuletzt geprüft 16.4.2021

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