Wirtschaftsethnologie (1): Einleitung

Tauschwirtschaft und Kapitalismus - ein Gegensatz?

Wie würden wir einem Fremden unser Wirtschaftssystem erklären? Den meisten würde ein Wort auf der Zunge liegen: Kapitalismus. Vielleicht als Gegenstück zum Sozialismus oder zur sowjetischen Planwirtschaft. Ein anderes Schlagwort wäre soziale Marktwirtschaft. In der Wirtschaftsethnologie ist es üblich, den Kapitalismus unserer Gesellschaft mit der Tauschwirtschaft nicht-industrialisierter Gesellschaften gegenüber zu stellen. Doch je länger ich mich mit Wirtschaftsethnologie, mit moka, kula, potlach und anderen Tausch- und Geschenökonomien beschäftigt hab, umso mehr wurde mir klar, wie wir teils nach ähnlichen Prinzipien wirtschaften und dass die Bedeutung des Kapitalismus in unserer Gesellschaft übertrieben wird.

Ausserdem ist unser Wirtschaftssystem nicht statisch, es unterliegt Veränderungen. Und es existieren mehrere Systeme neben einander. Immer wird an neuen Modellen gearbeitet, vor ein paar Jahren sprach man von einem Oeko-Kapitalismus, jetzt regiert der Neoliberalismus, die Grenzen sind jedoch fliessend. Phasen, in denen Unternehmen soziale Verantwortung übernehmen wechseln mit solchen ohne Verantwortung. Immer noch existiert eine kontrollierende Gewalt: die Politik. Gewählte Volksvertreter legen die Regeln für Handel und Wirtschaft fest, im Zuge wirtschaftlicher Globalisierung nimmt die Macht der Politiker jedoch zugunsten von Wirtschaftsvertretern immer mehr ab. Das bekümmert immer mehr Leute, die sich in diversen Bewegungen engagieren.

Interessanterweise wurden in den letzten Jahren immer mehr Tauschringe gegründet, da Dienstleistungen wie eine Veloreperatur kaum mehr bezahlbar sind. Vielen ist der soziale Aspekt zentral: Tauschringe lassen eine Community von Leuten entstehen, die sich gegenseitig Dienste erweisen und helfen, ohne dass Geld ins Spiel kommt. Die Kultur der Gegenseitigkeit hat mit dem Internet Auftrieb erhalten. Programmierer stellen gratis Programme zum Download bereit, in Foren kann man sich zu allen möglichen Themen beraten und helfen lassen. Viele Leute erstellen Netzseiten und hoffen, dass sie den Leserinnen und Lesern nützen.

Wirtschaftsethnologie ist daher ein sehr aktuelles Thema, da es über ein grosses Repetoir an Studien über alternative Wirtschaftsmodelle verfügt. Gerne werden ethnologische Erkenntnisse in politischen Kontexten benutzt, wie z.B. von Kapitalismus- und Globalisierungskritikern. Es ist vor allem ein Konzept, das die Kritiker interessiert - das der "Embeddedness" von Karl Polanyi.

Embeddedness meint, dass die Wirtschaft ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ist, ("embedded"), unseren Normen und Werten, also unserer Kultur untergeordnet. Dies ist nicht nur bei nicht-kapitalistischen Gesellschaften der Fall, sondern auch bei uns. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist ein Beispiel hierfür: Die Wirtschaft wird mittels Gesetzen reguliert, um Wohlstand für alle zu ermöglichen.

Polanyi meint, dass Wirtschaft auf die Dauer nur zum Besten aller funktionieren kann, wenn sie in der Kultur der Gesellschaft "embedded" ist - wie dies z.B. in einem Sozialstaat der Fall ist.

Doch heute, im Zeitalter wirtschaftlicher Globalisierung kann man sich fragen, ob sich die Verhältnisse umkehren, dass sich unsere Kultur der Wirtschaft unterordnen muss.

Denn die meisten politischen Entscheidungen werden einseitig mit der Ökonomie begründet, wie viel Geld sich sparen liesse, Profit rausschlagen etc.

Zum Beispiel sagte man bislang, eine gebildete Bevölkerung sei Grundlage für das Funktionieren einer Demokratie. Deswegen gab man gern grosse Summen für Bibliotheken aus, hat also die Wirtschaft diesen Anforderungen angepasst. Jetzt werden Bibliotheksfilialen geschlossen und Zeitungsabonnements gekündigt. Auf die Frage eines Journalisten, ob hier gegen den Bildungsauftrag verstossen werde, antwortete die Bibliothekssprecherin: Das dreht sich um Oekonomie.

Ich werde nun drei berühmte Beispiele von Tauschwirtschaft schildern: Kula, moka und potlatch. Danach werde ich eine vielzitierte Forschung über die Veränderungen in der Wirtschaft der Tiv durch die Marktwirtschaft skizzieren, die Bedeutung von Geld diskutieren (Ist Geld ein neutrales Zahl- und Tauschmittel oder verändert es unsere Art zu denken und handeln?) und Tauschwirtschaft und Kapitalismus vergleichen.








Lorenz Khazaleh, Januar 2001, November 2002, Ende Februar 2004.


DISKUSSIONSFORUM

:MENUE WIRTSCHAFTSETHNOLOGIE:


Teil 1: Einführung

Teil 2: Tauschformen

Teil 3: Kula auf Trobriand

Teil 4: Potlatch bei den Kwiakiutl in NW-Amerika

Teil 5: Moka in Papua Neu-Guinea

Teil 6: Pig and Cattle-Complex bei den Nuern im Sudan

Teil 7: Kapitalismus und Tiv-Oekonomie in Nigeria

» DRUCKVERSION (gesamter Text, 9 Seiten, 48kb)

NEU! DISKUSSIONSFORUM zum Austauschen von Information ueber Wirtschaftsethnologie (26.2.04)




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:MEHR IM NETZ ZUM THEMA:


Was ist Kapitalismus? (Lexikon socioweb.de)

Was ist (Neo-)Liberalismus? (Lexikon socioweb.de)

Neoliberalismus und Oeko-Kapitalismus - eine Streitschrift (thur.de)

Das Talent-Tauschexperiment in der Schweiz (talent.ch)

Mehr über "Embeddedness von Polanyi und wie es in der Kapitalismus-Kritik verwendet wird (MaiNot-Forum / The Hindu)

Tausch im Dreilaendereck


siehe auch die Links in den einzelnen Kapiteln